Du bist nicht ich, unter diesem Titel beginnt Judith Kuckart 2014 ihren Dialog mit der bekanntesten deutschsprachigen Autorin des 19. Jahrhunderts. Bisher umfasst diese Auseinandersetzung das genannte ‚literarische Zwiegespräch‘ und zwei Dramatisierungen von bzw. nach Motiven aus Droste-Texten, nämlich Mutter, lügen die Förster? (2016) und Jagd auf Tilla Fuchs (2019). Ausgangspunkt Kuckarts ist die gemeinsame Erfahrung, in der westfälischen Provinz aufgewachsen und über den Weg der Kunst aufgebrochen zu sein: Annette von Droste-Hülshoff (1797–1848), die auch aufgrund ihrer zeitlebens labilen physischen Konstitution über Meersburg am Bodensee nie hinausgekommen ist, als Dichterin, (verkannte) Dramatikerin und Komponistin, und Judith Kuckart als Tänzerin, Choreografin, Regisseurin und Schriftstellerin, was sie u.a. nach Berlin, Zürich, London, Rom, Krakau und Kapstadt geführt hat. Wenngleich die biografischen Berührungspunkte nicht im Zentrum der mehrjährigen Beschäftigung Kuckarts mit Droste-Hülshoffs Leben und Werk stehen, bilden sie doch eine konstante Bezugsgröße, weil die Frage nach dem ‚Abgrund Mensch‘ in den Texten beider Autorinnen an das Spannungsverhältnis von (westfälischer) Heimat und Fremde – genauer, an die Interdependenz von Heimat- und Fremdheitskonstruktionen – gekoppelt ist. Schon bei der über lange Zeit als biedermeierliche ‚Heimatdichterin‘ tradierten Autorin des 19. Jahrhunderts ist der Bezug zur westfälischen Heimat von starken Ambivalenzen geprägt. Das zeigt sich nicht nur an dem dunklen, im ostwestfälischen Raum angesiedelten Kosmos, den Droste-Hülshoff in der Judenbuche entwirft, sondern auch in Gedichten wie Die Jagd (Einbruch von Gewalt in die friedliche Natur) und Die Mergelgrube (einerseits bunt schillernde, faszinierende Gesteinsschichten, andererseits aufgerissene Landschaft und verödete Natur), um nur zwei Beispiele zu nennen.