Ausgangslage
In der aktuellen Pandemiesituation sind volksgesundheitliche Massnahmen zur Risikoverminderung
der COVID-19-Infektion dringend gesucht. Die Hinweise zu Vitamin D als mögliche präventive
Massnahme häufen sich und obgleich die in einer idealen Welt geforderte Evidenz einer
grossen Studie zu Vitamin D bei COVID-19-erkrankten Patienten aktuell aussteht, sind
aus einer volksgesundheitlichen Sicht in der aktuellen Krisensituation umsichtige
Regeln, gestützt auf eine umfassende Risiko-Benefit-Analyse, notwendig, um potenziell
Menschenleben zu retten. Aus dieser Perspektive betrachtet sprechen aus volksgesundheitlicher
Sicht mehr Argumente für eine präventive Gabe von 400 bis 1000 IE Vitamin D am Tag
im Rahmen der COVID-19-Pandemie als dagegen.
Dieses Statement basierend auf neusten wissenschaftlichen Daten soll die aktuelle
Kontroverse zu Vitamin D in der Laienpresse sachlich ergänzen und Geriater*Innen und
Hausärzt*Innen unterstützen, die Aussagen in der Laienpresse einzuordnen.
Was ist die wichtigste Evidenz für eine Empfehlung zur Vitamin-D-Supplementation in
der aktuellen COVID-19-Pandemie-Situation?
Das wichtigste Argument für eine volksgesundheitliche Empfehlung zur präventiven Gabe
von Vitamin D im Rahmen der aktuellen Pandemiesituation ist eine aktuelle Metaanalyse
von 42 hochqualitativen klinischen Studien mit total 46.331 Studienteilnehmern und
Studienteilnehmerinnen im Alter von 0 bis 95 Jahren. Ziel dieser Metaanalyse war herauszufinden,
inwieweit eine Vitamin-D-Gabe das Risiko von akuten Atemwegsinfekten senken kann.
Einschränkend bezogen auf die aktuelle Pandemiesituation ging es hier um akute Atemwegsinfekte
jeglicher Art, also nicht speziell um COVID-19-verursachte akute Atemwegsinfekte.
Das Resultat dieser Metaanalyse ist zudem noch nicht zur Publikation angenommen, aber
bereits umfassend in einer Vorpublikation auf dem Internet einsehbar1.
Über alle 42 Interventionsstudien dieser Metaanalyse hinweg zeigt sich ein bescheidener
Effekt mit einer signifikanten 9 %igen Verminderung der akuten Atemwegsinfekte unter
Vitamin D (Odds Ratio [OR] = 0,91, 95 %-KI 0,84–0,99). Die Autoren weisen jedoch darauf
hin, dass die Analyse aller Studien möglicherweise den Benefit von Vitamin D unterschätzt,
weil eine grosse Heterogenität zwischen den Studien festgestellt wurde. Tatsächlich
zeigte das Ergebnis der Studien, welche die heutige Empfehlung von täglich 400–1000 IE
Vitamin D untersucht hatten, ein deutlicheres und homogeneres Ergebnis, mit einer
Verminderung der akuten Atemwegsinfekte um 30 % (OR = 0,70, 95 %-KI 0,55–0,89). Und
für 8 Studien in der täglichen Dosierung von 400 bis 1000 IE Vitamin D in einer Anwendung
bis zu 12 Monaten war das Ergebnis am ausgeprägtesten und homogensten mit einer Verminderung
der akuten Atemwegsinfekte um 42 % (OR = 0,58, 95 %-KI 0,45–0,75).
Die wöchentlichen oder monatlichen Bolusgaben von Vitamin D waren hingegen nicht wirksam
in der Verminderung akuter Atemwegsinfekte, während die tägliche Gabe von Vitamin D
das Risiko akuter Atemwegsinfekte unabhängig von der Dosierung um 25 % verminderte
(OR = 0,75, 95 %-KI 0,61–0,93).
Aktuell findet eine Ergänzung dieser neusten Metaanalyse mit den Daten der DO-HEALTH-Studie
statt [1]. DO-HEALTH untersuchte die zusätzliche Gabe von 2000 IE Vitamin D am Tag
und zeigte eine signifikante 16 %ige Verminderung jeglicher Infekte, jedoch nur bei
den jüngeren Teilnehmern und Teilnehmern im Alter von 70 bis 74 Jahren. In DO-HEALTH
hatte der überwiegende Teil der Studienteilnehmer*Innen zu Beginn der Studie keinen
Vitamin-D-Mangel und alle Studienteilnehmer*Innen durften die heutige Empfehlung von
800 IE Vitamin D am Tag zusätzlich zur Studienmedikation einnehmen.
Zusammenfassend bezüglich der Einordnung dieser neusten Metaanalyse ist deren Ergebnis
aus volksgesundheitlicher Sicht in der aktuellen Pandemiesituation relevant, weil
COVID-19 ein akuter viraler Atemwegsinfekt ist. Mit und im schlimmsten Fall ohne Ansprechen
auf das COVID-19-Virus ist eine Reduktion jeglicher akuten Atemwegsinfekte um 30 %
mit der Einnahme von 400 bis 1000 IE Vitamin D am Tag volksgesundheitlich hoch relevant.
Im Rahmen einer Risiko-Benefit-Abwägung käme mit dieser Empfehlung zudem niemand zu
Schaden, im Gegenteil, mit dieser Empfehlung könnten minimal andere virale und bakterielle
akute Atemwegsinfekte gesenkt werden und vulnerable ältere Menschen mit Vitamin-D-Mangel
hätten den belegten Benefit einer Risikoverminderung von Knochenbrüchen und Stürzen
[2–6]. Bezüglich der Sicherheit ist Vitamin D in der täglichen Dosierung von 400 bis
1000 IE am Tag bereits in den präventiven Vitamin-D-Empfehlungen seitens des BAG (Federal
Commission for Nutrition. Vitamin D deficiency: Evidence, safety, and recommendations
for the Swiss Population. Expert report of the FCN. Zurich: Federal Office for Public
Health, 2012) verankert, die zur Prävention ohne notwendige vorherige Testung des
Blutspiegels zur Anwendung kommen, mit 97 % Sicherheit den Vitamin-D-Mangel korrigieren
und Menschen ohne Vitamin-D-Mangel nicht gefährden [7].
Welche Hinweise gibt es spezifisch zu Vitamin D und COVID-19?
Bezogen auf COVID-19 wurde in den vergangenen Monaten in der überwiegenden Anzahl
publizierter Kohortenstudien beobachtet, dass Personen mit einem Vitamin-D-Mangel
ein erhöhtes COVID-19-Risiko und eine erhöhte COVID-19-Mortalität aufweisen [8–12].
Kohortendaten belegen jedoch keine Kausalität und können wesentliche Schwächen aufweisen
[13].
Dazu kommen basiswissenschaftliche Studien, die zeigen, dass Vitamin D den COVID-19-induzierten
Zytokinsturm zu unterdrücken scheint [14, 15], als mögliche Erklärung, warum in verschiedenen
Kohortenstudien ein höherer Vitamin-D-Blutspiegel mit einem geringeren Schweregrad
der COVID-19-Erkrankung korreliert [8–12]. Bekannt ist, dass Vitamin D eine Rolle
in der angeborenen und akuten Immunantwort spielt [16]. Entsprechend ist der Vitamin-D-Rezeptor
(Andockstelle) auf vielen Zellen des Immunsystems verankert [16] und vermittelt zum
Beispiel die Freisetzung von Entzündungsfaktoren (Zytokinen) durch sogenannte Fresszellen
und trägt damit zu einer Hochregulation von antimikrobiellen Substanzen bei, die eine
antivirale Wirkung haben [17, 18]. Bezogen auf die Prävention akuter Atemwegsinfekte
ist zudem bekannt, dass Virusinfektionen in der Lunge die Aktivierung von Vitamin D
in dessen aktiver Form (1,25-Dihydroxyvitamin D) fördern und damit antivirale Abwehrmechanismen
(Cathelicidin) in Gang kommen [17, 18].
Bezüglich Interventioneller Studien zur Rolle einer Vitamin-D-Therapie bei COVID-19-Patienten
sind zwei kleine Pilotstudien publiziert:
In einer randomisierten Interventionsstudie mit Calcifediol (Vitamin-D-Metabolit)
wurde eine signifikante Verringerung des Bedarfs an Intensivstationsbehandlungen bei
76 Krankenhauspatienten mit einer belegten COVID-19-Lungenentzündung festgestellt.
Während in der Kontrollgruppe 50 % intensivstationspflichtig wurden, waren es in der
Calcifediolgruppe 2 % [19].
In einer placebokontrollierten Interventionsstudie mit 40 COVID-positiven Menschen
mit keinen oder leichten Symptomen und einem belegten Vitamin-D-Mangel zeigte sich
unter einer hoch dosierten Vitamin-D-Gabe, dass 63 % der Teilnehmer in der Interventionsgruppe
und nur 21 % in der Kontrollgruppe vor Erreichen der 3. Woche COVID-RNA-negativ wurden
[20].
Bisher fehlen große klinische Interventionsstudien, die die Rolle von Vitamin D bei
COVID-19-erkrankten Menschen belegen. Eine große Studie bei COVID-19-erkrankten Menschen
läuft derzeit in Boston (VIVID: https://clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT04536298).
Stellen die ersten DO-HEALTH-Resultate die aktuellen Empfehlungen zu 800 IE Vitamin D
am Tag bei Erwachsenen im Alter 60+ in der Prävention von Frakturen infrage?
DO-HEALTH zeigte keinen Benefit von Vitamin D bezüglich des Risikos nichtvertebraler
Frakturen. Wichtig ist jedoch, dass sich die Ergebnisse von DO-HEALTH auf die zusätzliche
Einnahme von 2000 IE Vitamin D am Tag (zusätzlich zu der aktuellen Empfehlung von
800 IE am Tag) bei aktiven und gesunden älteren Menschen im Alter 70 und älter beziehen,
die im überwiegenden Teil keinen Vitamin-D-Mangel hatten und in über 30 % der Fälle
während der Studie 800 IE am Tag zusätzlich zur Studienmedikation einnahmen. Damit
widersprechen die DO-HEALTH-Ergebnisse den aktuellen Empfehlungen von 800 IE Vitamin D
am Tag für ältere Erwachsene nicht und stellen auch nicht die belegte Wirkung von
800 IE Vitamin D am Tag in der Prävention von Stürzen & Frakturen bei vulnerablen
älteren Menschen mit Vitamin-D-Mangel und Osteoporose infrage [2–6].
Als wichtige Übereinstimmung bezüglich Vitamin-D-Empfehlungen für die Knochenbruchprävention,
Sturzprävention und Prävention von akuten Atemwegsinfekten sollten Bolusgaben von
Vitamin D vermieden werden und die tägliche Einnahme von Vitamin D bevorzugt stattfinden
[5, 6].
Zusammenfassend
fehlt bezüglich Vitamin D zum heutigen Zeitpunkt zwar der abschliessende Beweis einer
grossen klinischen Studie bei COVID-19-erkrankten Patienten, jedoch sollte in der
aktuellen Pandemiesituation die Evidenz bezogen auf die Senkung jeglicher akuter Atemwegsinfekte
um 30 % mit der seitens des BAG seit 2012 bestehenden präventiven Empfehlung von 400
bis 1000 IE am Tag (bezogen auf die Knochengesundheit) eine ausreichende volksgesundheitliche
Basis darstellen, um jetzt zu reagieren. Alternativ werden, bis die Studienergebnisse
der Boston-VIVID-Studie vorliegen, Monate vergehen, in denen die sichere und günstige
und breit verfügbare präventive Massnahme von 400 bis 1000 IE Vitamin D am Tag bereits
greifen könnte. Dazu befinden wir uns in der Wintersaison, in der mindestens jeder
zweite erwachsene Mensch in der Schweiz einen Vitamin-D-Mangel hat [21] und die COVID-19-Hochrisikopopulation
von vulnerablen älteren Menschen das höchste Risiko für einen Vitamin-D-Mangel trägt
[22].
Empfehlung
Anhand dieser Risiko-Benefit-Abwägung in der aktuellen Pandemiesituation empfiehlt
dieses Experten-Statement allen Menschen ab 60 Jahren täglich 800 IE Vitamin D nicht
nur bezogen auf die Knochengesundheit, sondern in der aktuellen Pandemiesituation
auch zur Prävention akuter Atemwegsinfekte. Diese Empfehlung bezieht sich prioritär
auf die neuste Metaanalyse mit 42 Studien, welche für die tägliche Dosis von 400 bis
1000 IE Vitamin D eine Verminderung akuter Atemwegsinfekte um 30 % belegen konnte.
Hausärzte sollten ihre Patienten jedoch darauf hinweisen, dass es bisher keinen Beleg
gibt, dass Vitamin D auch vor akuten Atemwegsinfekten durch COVID-19 schützt, dass
es jedoch zunehmende wissenschaftliche Hinweise gibt, dass die Behebung eines Vitamin-D-Mangels
das Risiko von schweren Krankheitsverläufen der COVID-19-Atemwegsinfektion vermindern
könnte.
Konsistent mit den 2012 publizierten Empfehlungen des BAG bedarf die Supplementation
mit 800 IE Vitamin D am Tag keiner vorherigen Testung des Blutspiegels, weil diese
Dosierung auch bei Menschen ohne Mangel sicher ist und in 97 % der Fälle den Vitamin-D-Mangel
sicher behebt.
Die Empfehlung von 800 IE Vitamin D am Tag sollte bei Menschen im Alter 60+ auch nach
einer COVID-19-Impfung fortgeführt werden zur Prävention jeglicher akuten Atemwegsinfekte.
Aus volksgesundheitlicher Sicht einer entsprechenden Benefit-Risiko-Betrachtung erscheint
es in der aktuellen und eskalierenden Pandemiesituation wichtig, diese Präventionsempfehlung
zur Senkung des Risikos für akute Atemwegsinfekte schnell umzusetzen.
Zitat Editorial Lancet 1‑2021 zu Vitamin D und COVID-19: „Additional evidence could
come in just too late. In an ideal world, all health decisions would be made based
on overwhelming evidence, but a time of crisis may call for a slightly different set
of rules.“